Es ist immer dasselbe – einerseits klagen alle ständig, dass es um die Musikpädagogik in Deutschland schlecht bestellt ist. Der Musikunterricht in den Schulen kämpft mit schwindenden Stundenzahlen und Mitteln. Die Orchester klagen über grauhaarige Konzertbesucher und fehlenden (Hörer)nachwuchs. In den Kindergärten und – Krippen wird kaum noch gesungen und es fehlt an kompetenten Kräften, die mit den Kindern Musik machen. Zudem gibt es nur sehr wenige zeitgenössische Komponisten, die sich wirklich ernsthaft mit Musik für Kinder auseinandersetzen – das Feld wird fast komplett Rolf Zuckowski und seinen vielen Klonen überlassen (Diese mögen zwar ihre Meriten als Weihnachtsbäcker oder ähnliches haben, der künstlerische Mehrwert bewegt sich aber eher gen Null).
Nun ist es ja nicht so, dass diese Problematik ignoriert wird. Tatsächlich ist in Deutschland seit vielen Jahren eine große Anstrengung zu verspüren, dem musikalischen Erziehungsnotstand entgegen zu wirken. Fast jedes Orchester und Opernhaus leistet sich ein Education-Programm, es gibt zahlreiche unabhängige Initiativen, die wunderbare und liebevoll betreute Projekte für Kinder realisieren, sehr oft ehrenamtlich und mit großem persönlichem Einsatz. An Ideen, Preisen, Stipendien und Fördergeldern mangelt es nicht. Myriaden von Musikern suchen inzwischen die Schulklassen heim, um Instrumente vorzustellen oder ihren Beruf zu erklären. Man kann also guten Gewissens von einer richtiggehenden Renaissance von qualitativ hochwertigen Musikangeboten für Kinder sprechen. Nur erfährt man sehr wenig davon.
Es gibt auch ein großes Interesse – über mangelnden Publikumszuspruch können sich die wenigsten Kinderkonzerte beklagen, denn die Eltern von heute sind geradezu verzweifelt auf der Suche nach schönen Konzertveranstaltungen für Kinder. Und dieses Interesse beschränkt sich eben nicht auf die Dauerbrenner „Peter und der Wolf“ oder „Karneval der Tiere“.
Als Vater zweier kleiner Kinder kenne ich es selbst – an Litfaßsäulen halte ich geradezu Ausschau nach Veranstaltungen, die nicht die übliche kommerzielle Kinderabzocke bedienen. Und ich gehe dann auch sehr gerne mit meinen Kindern dorthin.
Wenn man aber versucht, sich über die Qualität dieser Veranstaltungen zu informieren, begegnet man sehr schnell einem großen Vakuum. Das beginnt schon einmal damit, dass es so gut wie keine Kritiken über Konzerte für Kinder gibt. Schon einmal gar nicht von der höheren Kritikergarde. Da friert eher die Hölle zu als dass diese sich einmal dazu herablassen, eine Uraufführung eines Stückes für Kinder ins Zentrum des Feuilletons zu stellen (oder einen Musikkindergarten zu besuchen, wie zum Beispiel den in Berlin). Ausnahmen bestätigen die Regel.
Wenn man erfahren will, wie eine bestimmte Veranstaltung für Kinder eigentlich war, muss man mit großer Wahrscheinlichkeit den Lokalteil bemühen (wenn man Glück hat). Und diese Kritik wurde dann von einem Praktikanten geschrieben und liest sich auch dementsprechend.
Wenn man auf Amazon nach CDs für Kinder stöbert, findet man viele private Rezensionen von glücklichen oder unglücklichen Käufern, in der sogenannten Fachpresse muss man aber mit der Lupe nach solchen Rezensionen suchen. Die Zeitungen kündigen Kinderprojekte eher pflichtbewusst als wirklich begeistert an, oft fehlen im Gegensatz zu anderen Veranstaltungen Bilder oder weitergehende Informationen. Pressekonferenzen für Kinderstücke sind ungefähr so selten wie Gnus in Göttingen.
Es mag immer wieder löbliche Ausnahmen geben, letztlich bleiben sie nur Ausreißer gegen den Trend, eine ganz klare Zweiklassengesellschaft in der Musik aufzubauen. Wer neue Musik für (oder noch schlimmer: mit) Kinder(n) macht steht definitiv hierarchisch unter demjenigen, der Musik für „Experten“ macht. Wobei die Musik für „Experten“ ein wesentlich spezielleres (und kleineres!) Publikum anspricht, als die Musik für Kinder.
Es geht schon so weit, dass ich mir als Komponist bei jeder Anfrage für eine Komposition für Kinder lange überlegen muss, ob ich diese überhaupt annehme. Nicht weil es mir keinen Spaß machen würde, sondern weil es den „point of no return“ gibt, an dem man plötzlich zum „Komponist für Kinder“ abgestempelt wird, und dann NUR NOCH Aufträge dieser Art bekommt. Und plötzlich ist man dann gar nicht mehr Teil eines musikalischen Diskurses, sondern dreht sein eigenes Ding.
Dabei muss es einem keineswegs schlecht gehen – ich kenne zahlreiche Kollegen, die sehr erfolgreiche Karrieren als Komponisten von Musik für Kinder haben. Aber wenn man mit ihnen spricht, spürt man auch schnell die Frustration darüber, zwar viel Erfolg zu haben, aber nie ernst genommen zu werden. Bekannte Komponisten wie Kurtag oder Henze haben zum Beispiel gute Musik für Kinder geschrieben, diese aber wohl dosiert in ihrem Werkverzeichnis platziert, damit ihnen auf keinen Fall der Stempel „Kinderkomponist“ aufgedrückt wird. Manche anderen Komponisten riskieren diese Gefahr lieber gar nicht erst.
Nun kann man darüber diskutieren, wie wichtig es ist, ernst genommen zu werden, und ob nicht vielleicht der Unernst viel subversiver ist. Aber ich habe selber ja erlebt, wie unterschiedlich meine eigenen Stücke für Kinder wahrgenommen werden und wurden. Erzähle ich von meinem neuen Stück für ein Opernhaus oder ein Orchester, hört man zu, ist es ein Stück für Kinder hören die meisten weg. Selbst wenn sie selber Kinder haben.
Man spricht ja in der Neuen Musik von einer Art „Uraufführungswahn“ – stets muss man neue Stücke schreiben, weil sich die Auftraggeber eher mit einem neuen Werk profilieren wollen, als sich mit einem schon existierenden auszuzeichnen. In der Kindermusik ist dies noch viel krasser – so gering ist ihr Ansehen im Feuilleton, dass man sich überhaupt nur mit „Neuem“ profilieren kann, denn dann besteht vielleicht noch die winzige Chance, dass ein Kritiker einer angesehenen Zeitung sich einmal in eine Hauptprobe verirrt.
Vielleicht denken manche, ein Stück für Kinder sei irgendwie leichter zu schreiben. Natürlich ist das absolute Gegenteil der Fall. Gerade bei Musik für Kinder ist die kompositorische Anforderung sogar höher, entweder aus hörpsychologischen Gründen oder auch aus Fragen der fortgeschrittenen Instrumentalkenntnis, wenn man zum Beispiel für junge Spieler (oder Anfänger) schreibt. Schon oft habe ich gestandene Komponisten scheitern sehen, weil sie beim Schreiben nicht ihr übliches Repertoire an Multiphonics und anderen fortgeschrittenen Spieltechniken verwenden dürfen. Da bleibt dann oft wenig übrig, denn die instrumentale Virtuosität der Neuen Musik dient gerne dazu, fehlende Inspiration zu kaschieren. Musik für Kinder verlangt dagegen bedingungslose Ehrlichkeit der eigenen Idee gegenüber. Und sie hat das allerkritischste (weil ehrlichste) Publikum: Kinder!
Gerade Kinder haben ein untrügliches Gespür für Authentizität, das nur selten versagt. Oder erst dann, wenn ihnen Fernsehwerbung und Kommerz ihnen dieses Gespür geraubt hat (und sie plötzlich Prinzessin Lillifee verfallen sind). Im Grunde ist ein Auftritt vor Kindern die heilsamste (und nervenaufreibendste) Erfahrung für jeden Künstler. Man muss sich tatsächlich wesentlich mehr anstrengen als vor dem durchschnittlichen Erwachsenenpublikum. Und Kinder laugen einen auch mehr aus. All dies ist aber als positiv zu verstehen. Gute Kinderkonzerte zu machen verlangt einem höchste Professionalität und 100% Einsatz ab. Wenn man sie ernst nimmt und nicht lieblos als Pflichtaufgabe betreibt, was leider oft geschieht.
Warum dies „zweitklassig“ ist, wird wohl ewig ein Geheimnis bleiben. Vielleicht erwartet man von den Kindern keinerlei dauerhafte Wertschätzung oder effektive Mundpropaganda. Aber jeder von uns wird sich doch an prägende und dauerhafte musikalische Erfahrungen als Kind erinnern, und wie wichtig diese für unser Leben waren. Kinder haben ein wesentlich besseres Gedächtnis als die Alzheimer-gefährdete Klientel der normalen klassischen Konzerte. Sie vergessen nicht, wenn sie etwas beeindruckt hat. Warum also so lieblos?
Und das ist auch in anderen Kunstgenres so – Klassiker der Kinderbuchliteratur gehören zu den absoluten Dauerbrennern im Buchgeschäft, sie werden im Gegensatz zu den meisten zeitgenössischen Werken immer wieder neu aufgelegt und von neuen Generationen von Kindern verschlungen, die dann – selber erwachsen geworden – diese Bücher ihren eigenen Kindern vorlesen. Das könnte doch in der Musik auch funktionieren?
Aber auch in der Literatur gibt es die Zweiklassengesellschaft – nach wie vor schämen sich viele „Intellektuelle“, eine Begeisterung für Jugend- oder Kinderbücher zuzugeben, wenn man sich doch viel lieber mit vielen klug klingenden Sätzen über den neuen langweiligen Wälzer von Handke oder Walser auslassen kann. Den man in Wirklichkeit ja gar nicht gelesen hat, im Gegensatz zu „Harry Potter“ oder den „Tributen von Panem“.
Und auf diese Bücher trifft definitiv das zu, was man auch über Kindermusik sagen kann:
Viel besser als ihr Ruf.
Moritz Eggert